Ursula Gisemba

EIN SONG FÜR ALICE: NEUE ORTE UND ANKOMMEN – 1. Teil

Was heißt es einem Ruf zu folgen? Vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte der Rebellenführerin Alice Auma betrachtet die Autorin und Künstlerin Ursula Gisemba im ersten Teil ihrer Textserie EIN SONG FÜR ALICE: NEUE ORTE UND ANKOMMEN das eigene Schreiben und wie das Verlassen und Aufsuchen von Orten die Entwicklung eines Textes beeinflusst.

Über den Ruf

Sich an einem neuen Ort wiederzufinden, bedeutet auch, einem Ruf zu folgen. Es könnte eine innere Sehnsucht sein, die dich dazu bewegt, das Außen zu erkunden. Oder es ist ein Ruf von außen, der dich auffordert, weiter hinauszugehen und an einem neuen Ort zu leben. Umgekehrt könnte es aber auch ein Ruf von außen sein, der dich zu Erfahrungen drängt, die mit der Norm brechen und dich darum bittet, nach innen zurückzukehren. Wie dem auch sei … ich denke, alles beginnt mit einem Ruf.

Während ich über meine Protagonistin – Alice Auma – nachdenke, besser bekannt als Alice Lakwena, stelle ich fasziniert fest, dass sie in jungen Jahren als Tomatenverkäuferin beschrieben wird. Alice saß vermutlich stundenlang am Straßenrand, auf einem Sack, umgeben von Dosen und Kisten mit Tomaten, und versuchte, diese loszuwerden. Tomaten – rote Früchte oder rotes Gemüse? Die Tomate selbst weiß nicht, was sie ist. Sie kann nur tun, zu was sie bestimmt ist: auf den Tisch kommen.

Alice' Reise in ein anderes Leben – ein Leben, das nicht dazu bestimmt ist, Tomaten zu verkaufen, sondern ihr Volk anzuführen, um für seine Rettung und gegen die Ungerechtigkeiten zu kämpfen, denen es ausgesetzt ist – beginnt mit einem Ruf. „Hineni“ ist Alices Antwort. Sie ahmt den Ruf Gottes aus den Bibeltexten des Alten Testaments nach (viele Gegebenheiten in ihrem Leben spiegeln, in Teilen, die weitreichenden Konsequenzen der Missionsarbeit und des Christentums in der afrikanischen Kultur wider). ,Hineni‘ bedeutet: „Hier bin ich. Ich bin deine Dienerin. Benutze mich.“

Das erste Stück, an dem ich während meines Aufenthalts schreibe, konzentriert sich auf Alices Reise in Folge dieses Rufs. Wenn Alice an Ort und Stelle geblieben wäre, um Tomaten auf dem lokalen Markt zu verkaufen, wäre der Reiz ihrer Reise in der Tat verloren gegangen.

Über den Ort

Auch ich beginne – vor dem Hintergrund, dass ich ebenfalls von zuhause fortgereist bin – damit, über Orte nachzudenken; was sie von uns fordern und wie sie uns verändern. Genauso frage ich mich: “Welchen Einfluss hat es auf mein Schreiben, dass ich nicht zu Hause bin?” 

Ein Ort verändert das Werk. Ein Ort hat einen starken Einfluss auf das Werk. Ein Ort beeinflusst die Geschichte dieses Werks. Ein Ort macht das Werk richtig. Ein Ort kann das Werk aber auch genauso falsch machen. Ein Ort beeinflusst die Erinnerung. Das Erleben eines Ortes verändert die Worte der Schreibenden. Ein Ort verändert Gefühle. Ein Ort zwingt Emotionen auf. Was bedeutet es, ein Stück zu schreiben, das so auf eine Landschaft fokussiert ist und das gleichzeitig weit weg von eben dieser Landschaft ist? Korrumpiert meine Erinnerung an die Landschaft, meine Ehrlichkeit in dem, was ich schreibe? Oder steigert die Nostalgie einer Landschaft meine Fähigkeit, in der Poesie zu schwelgen?

Über das Ankommen

Ganz wie Alice habe ich kein anderes Bedürfnis, als dem Ruf zu folgen. Zu schreiben. Noch habe ich keine Antworten auf meine Fragen zu den Orten gefunden. Ich werde noch etwas mehr Zeit in dieser atemberaubenden Landschaft verbringen, die schneebedeckten Alpen bewundern. Vielleicht unterhalte ich mich mit den Amseln oder Eichhörnchen, während ich weiter über mein Schreiben und die Entwicklung meines experimentellen Werks nachdenke!

Über Ursula Gisemba

Die Autorin und Künstlerin Ursula Gisemba aus Nairobi ist die diesjährige Stipendiatin unseres Residenzprogramms – eine Kooperation mit Artist in Residence Munich: Villa Waldberta, Stadt München. In ihrer dreiteiligen Textserie wird sie uns Einblicke geben in ihren Aufenthalt in der Villa Waldberta und ihr Schreibprojekt, das sich mit dem umstrittenen Werk von Alice Auma – einer Rebellen-Führerin in den 1980ern in Uganda – befasst.