Rebecca Maria Fischer

Unterwegs beim SPIELART

Internationale Bühnenkunst in konzentrierter Form

Wrestling ABC rhapsody in history of divine cypher

Am Freitag, den 20.10.2023 eröffnete die 15. Ausgabe des SPIELART Theaterfestivals München. Das Festival hat es sich zur Aufgabe gemacht, die international angereisten Künstler*innen miteinander zu vernetzen und einen regen Austausch mit ihren Zuschauer*innen anzuregen. Hierzu sollen eine Vielzahl von Themen in intensiven 16 Tagen besprochen, verschiedenste Formsprachen und künstlerische Konzepte erprobt, unterschiedliche Orte bespielt, differenzierte Ästhetiken vorgestellt und konstruktive Diskurse ermöglicht werden.

Beim Betreten des mit Tüchern ausgehängten Raums riecht es angenehm süß nach Räucherstäbchen und Zucker, warmes Licht illuminiert den Raum spärlich und lenkt den Blick auf eine Frau, die einen Wasserkanister auf dem Kopf balanciert. Bald darauf erkennt man allmählich einen kleinen Roboter, der dem bekannten Kinohelden „WALL·E “ ähnelt. Er steht neben einem alten Fernseher in einer Ecke, die gemütlich mit Decken und Kissen ausgestattet wurde. Das Licht geht aus, leise füllt Musik den Raum, einem Mix aus traditionellen, zeitgenössischen und experimentellen Klängen, und Ana Pi beginnt im trüben Licht mit dem Wasserkanister auf dem Kopf balancierend in kreisenden Bewegungen nach haitianischer Tradition zu tanzen. Nach und nach bindet sie in THE DIVINE CYPHER moderne Tanzbausteine in ihre komplexe Choreografie ein. Sie lässt den Roboter kreisförmig über die Bühne fahren, verstreut kiloweise Zucker im Raum. Gleichwohl Ana Pi als Solotänzerin auftritt, bildet sie einen Reigen mit ihren Voodoo-Ahninnen. Dazu werden Videos von Landschaften auf den alten Fernseher und die hellen Tücher projiziert. Sie scheint ihre eigene Biografie in Tanz umzusetzen. Auch die kollektive Erinnerung eines Landes, dessen afrikanische Wurzeln und Diaspora-Situation sowie Hoffnungen für die Zukunft fließen dabei ein. Sie verwendet außerdem Elemente, die ihre Vorstellungen von künstlerischem Ausdruck reflektieren: „What is reality“ fragt sie, nachdem sich der tosende Applaus langsam gelegt hat und sie mit Bezug zum Titel ihrer Tanzperformance eine kurze Gesprächsrunde einleiten will, doch das Publikum hat keine zufriedenstellende Antwort darauf. War das eine verpasste Chance für einen produktiven Austausch? Wird die „göttliche Chiffre“ je entziffert? Lässt sich eine schnelllebige westliche Gesellschaft wirklich auf postkoloniale Fragen ein?

Noch immer nachdenklich und in der schwebenden Atmosphäre verweilend führt uns der Weg zum nächsten Programmpunkt: der dialektischen Wrestling Performance KAMPF UM DIE STADT von Julian Warner und Veronika Maurer. Sechs Wrestler*innen personifizieren die Ängste und Sorgen der Stadtbevölkerung Münchens, die auf Wohnungssuche schier verzweifelt. Das durchchoreografierte Spektakel wird von Cheerleader*innen, einer DJ und einer Moderatorin begleitet und durch Video-Liveübertragung, Einsatz von Nebel und buntem Licht begleitet. Die Stimmung des Publikums soll über den Ausgang des Kampfes entscheiden. Kein Wunder, dass die Held*innen, mit denen wir uns identifizieren sollen, erst durch das Wohlwollen des Schiedsrichters am Ende den Kampf um die Stadt für sich entscheiden können. Nach diesem letzten Schlag ins Gesicht tauscht man sich im Ampere über die besuchten Vorstellungen aus und feiert: Die Vorfreude auf die kommenden beiden Wochen ist deutlich zu spüren.

Am folgenden Tag besuchen wir die dokumentarische Performance A NOTIONAL HISTORY von Mark Teh, die die verschiedenen, zum Teil widersprüchlichen in Malaysia existierenden nationalen Narrationen aufdeckt und dazu aufruft, die Geschichte und Gegenwart aus verschiedenen Standpunkten aus zu lesen und zu hinterfragen. Das Bühnenbild erinnert durch das Arrangement aus Projektoren und aufgestellten Schulbüchern, sowie durch den dunkelgrünen Boden, der an Schiefertafeln erinnert und im Laufe der Performance von den Künstler*innen mit Kreide thematisch bemalt wird, an eine Schulzeit, in die sich das Publikum scheinbar zurückversetzt. Der sensible Tonfall und die sphärische musikalische Untermalung zwischen den Lehr-Einheiten verleihen dem Theaterabend einen bleibenden Eindruck und die Motivation, die Geschichte unseres eigenen Landes, ebenfalls kritisch zu lesen.

Im Anschluss folgt die Lecture Performance RHAPSODY IN YELLOW von Ming Wong, die die wechselhaften Beziehungen zwischen den USA und China in den vergangenen 50 Jahren reflektierend in Szene setzt, indem er symbolhaft zwei Kommunikationsebenen herausgreift: Die des Sports, repräsentiert durch Tischtennis, und der Kultur, repräsentiert durch Klavierkonzerte. So treten zwei Pianisten zu einem Klavierspiel-Duell bei der Aufführung des Konzerts „Rhapsody in Yellow“ an. Zwei computergenerierte Orchester liefern sich gemeinsam mit den beiden Live-Pianisten, die ebenfalls lange Monologe zur historischen Einordnung des musikalischen Werkes sprechen, ein spannendes Match. Dieses wurde zusätzlich durch eine clever geschnittene Dokumentation von Händeschütteln zum Handelskrieg, die mit Ausschnitten aus Propagandavideos und Konzertaufzeichnungen angereichert worden ist, untermalt.  Das musikalische Ereignis wird mit scheinbarer Leichtigkeit und Humor, die der so genannten „Ping Pong“-Diplomatie der 1970-er Jahre zu eigen war, inszeniert, tatsächlich wird indes die starke, gefährliche Wirkung von Propaganda und politischen Gesten durch diesen Theaterabend entlarvt und ausgestellt. Diese Widersprüchlichkeit spiegelt wohl auch Ming Wongs Gefühlswelt wider, einem international agierenden Künstler asiatischer Prägung.

Nach einem entspannten Zusammenkommen im Festivalzentrum im Motorama am Rosenheimer Platz besuchten wir die Ausstellung HOME AWAY FROM HOME – MUNICH von Polymer DMT in der Black Box des alten Gasteigs (jetzt: Fat Cat), die sich durch die Gestaltung szenischer Räume und Abspielen kurzer filmischer Dokumentararbeiten mit den Themen Heiratsvermittlung, Heimat, Identität und Kindheit auseinandersetzt. Zeitgleich kann im Festivalzentrum ein audio-geführtes Fotoalbum geliehen werden. FOTOGRAFIEN DER SITSCHOWYCH-STRILZIW-STRASSE von Dmytro Levytskyi erlauben einen intimen, ausdrucksstarken Einblick in das Leben des Fotografen in der Ukraine nach Kriegsbeginn, vom Abgründigen in Alltagssituationen.

Auch die Veranstaltung LEBEN IM ABSEITS – der bayrische Flüchtlingsverband im Gespräch mit Geflüchteten – im GGGNHM am Max-Joseph-Platz gibt einen analytischen und doch emotionalen Zugang zur Lebensrealität von Geflüchteten: Ersatzbushaltestellen seit neun Jahren, kein Internet- oder Mobilfunkempfang, kalte Duschen, ein täglicher Radweg von 25 Kilometern zur Arbeit und überfüllte Zimmer sind nur wenige der genannten Probleme. Die größte Schwierigkeit ist nach wie vor die soziale Isolierung und der unsichere Status, unter dem die Menschen leiden. Doch nicht Betroffenheit und Mitleid sollen erzielt werden, sondern man wird hineingezogen in kreative und konstruktive Lösungsversuche für ein gemeinsames Leben in einer pluralistischen Gesellschaft, in der jede*r seinen Platz hat.

Mit dem Thema der kriminellen Reputation befasst sich auch die Recherchearbeit SIMPLE AS ABC #7 THE VOICE OF FINGERS von Thomas Bellinck und Said Reza Adib. Sie erzählen die bereits 2000-jährige Geschichte davon, wie der individuelle Fingerabdruck zum Massenüberwachungs-, Macht- und Identifikationsinstrument wurde. Nach dem Leitsatz „If you can, count it“ wird der Mythos auf Asylsuchende angewandt. Je mehr sich diese von ihrer Heimat entfernen und sich auf die westliche Bürokratie einlassen müssen, wächst ihre Sehnsucht nach ihren Herkunftsländern, die durch Blumen symbolisiert werden. Der mit zwei Leinwänden ausgestattete Werkraum der Kammerspiele wird im Laufe des Abends mit hunderten roten Tulpen, die historisch im Osmanischen Reich kultiviert wurden und über Amsterdam nach Europa gekommen sind, ausgefüllt. Sie werden in regelmäßig zirkulierendem Licht von blau nach orange arrangiert und sollen an die Heimat erinnern.

Bereits die ersten drei Tage des Festivals beweisen, dass das SPIELART-Programm seinen Vorsätzen gerecht wird. Nicht nur gibt es nach drei Tagen schon acht verschiedene Theatergenres zu sehen, sondern auch acht völlig verschiedene ästhetische Ansätze, acht unterschiedliche Formsprachen, zehn neue Themen, hundert produktive Begegnungen und tausend gewaltige Bilder, die uns beeindruckt haben. Die thematischen Schwerpunkte regen dazu an, sich nicht nur über die Nachrichten zu informieren, sondern seinen Blick zu weiten, die Informationen stets zu hinterfragen und den gesellschaftlich-politischen Dialog zu suchen. Außerdem wurde eine Ästhetik geboten, die unsere eigenen künstlerischen Auseinandersetzungen in Zukunft mitprägen werden.