Eva Neklyaeva

Ways of knowing

... es war gegen Morgen, als ich plötzlich bemerkte, dass mich jemand auf der Tanzfläche auf Belarussisch ansprach. Wir waren auf der Queer-Party ‚Lecken’ in Berlin, einer Stadt, in der es für mich mittlerweile nicht ungewöhnlich ist, in einem Club auf meine Landsleute zu treffen. Wenn das passiert, ist es ein Ritual, draußen gemeinsam eine Zigarette zu rauchen und Geschichten über das Exil auszutauschen, bevor man wieder nach drinnen geht, um den Schmerz auf der Tanzfläche rauszuschwitzen. Ein Moment des geteilten Wissens, in dem ein paar Worte genügen und man nicht viel erklären muss. Davon erzählt auch die neue Performance ICH HEISSE FRAU TROFFEA von Sergey Shabohin und Igor Shugaleev: von dem Weg, der von den Straßenprotesten direkt ins Exil führt, um dann in den Tiefen des Techno zu münden. Queere, körperbetonte Rituale zur Bewältigung von politisch bedingten Traumata und Verlusterfahrungen stehen auch im Mittelpunkt ihrer zweiten Show bei SPIELART: 375 0908 2334 THE BODY YOU ARE CALLING IS CURRENTLY NOT AVAILABLE gibt dem Publikum die Möglichkeit, die Erfahrungen der Inhaftierten in Belarus nachzuempfinden, selbst dabei zu sein. Etwas, das Zehntausende von Demonstrant*innen durchgemacht haben – genauso wie die mit der erzwungenen Migration verbundenen Gefühle von Schuld und Hilflosigkeit. Die Performance erzählt keine Geschichte, sondern zielt darauf ab, körperliches Wissen zu teilen, „einen reflektierenden, verkörperlichten Prozess, der sinnliche Informationen über den sich bewegenden Körper in praktisches Wissen und Selbstverständnis verwandeln kann“ (Jaana Parviainen) [1].

Performance nicht als These, sondern als Erfahrung ist auch der Schlüssel zu Maria Metsalus KULTUUR, einer Festival-Koproduktion, die dieses Jahr bei SPIELART uraufgeführt wird. Sie beschreibt ihre Arbeit als „etwas zwischen einem Klavierkonzert und einer mit Fingern bemalten Oberfläche“ und geht eine spielerische Beziehung mit dem Publikum ein, das nie weiß, was als nächstes kommt. Maria begreift Performance als einen radikalen Raum, in dem durch Abweichung von der Norm eine neue Wahrnehmung ermöglicht wird. In den Worten von Minna Salami schafft sie ein sinnliches Wissen, „das nicht nur den Verstand und den Intellekt einbezieht, sondern auch das Gefühl, die Sinne, die Kunst, die Träume, die Körperlichkeit, den Geist und die Vorstellung von sich selbst als Teil eines großen Ganzen“. [2]

Teresa Vittucci bietet in DOOM eine urkomische Interpretation der Geschichte des verbotenen weiblichen Wissens, anhand der Figuren Eva und Pandora, die damit die Welt zu zerstören drohen. All diese furchterregenden Frauen, die Dinge entdecken, die sie eigentlich nicht wissen sollten – und dann ist alles verloren, für immer! Teresa hebt die Absurdität dieser Erzählungen hervor und lässt uns dabei – augenzwinkernd – mit einem Gefühl von Bedrohung zurück. Was wäre, wenn die Geschichten wahr wären? ...

Das Verfolgen der Nachrichten dient den meisten dazu, sich darüber zu informieren, was in der Welt passiert. Die Auswahl dessen, was „berichtenswert“ ist, ist jedoch eine bewusste Entscheidung, die vieles ungesagt lässt. FOTOGRAFIEN DER SITSCHOWYCH-STRILZIW-STRASSE von Dmytro Levytskyi nimmt die Zuschauer*innen mit auf einen Spaziergang durch das alltägliche Leben in einer Kiewer Straße – in einer Stadt im Krieg. Das Stück zoomt auf ein kleines Gebiet, auf das alltägliche Leben, auf winzige Details. In dieser Performance lernt das Publikum die Aspekte des Lebens während des Krieges kennen, die in den Nachrichten nicht vorkommen.

Manchmal kann es eine kraftvolle Geste sein, es laut auszusprechen: „Wir wissen es“. Kavachi rollt in seiner Dauerperformance THE CARPET COVERS THE EARTH den roten Teppich vor der Ausländerbehörde aus. Diese Geste zeigt, dass wir um die entmenschlichende und frustrierende Natur des Antragsprozesses für eine Aufenthaltsgenehmigung wissen. Und während Kavachi den roten Teppich aus einer Vielzahl von roten Stoffen näht, die von den Einwohner*innen der Stadt gespendet wurden, begegnet er dem System mit einer Geste des Trotzes, indem er alle, die zur Ausländerbehörde kommen, als Menschen willkommen heißt.

Donna Haraway sagt, es gibt mehr als nur eine Form von Wissen. Situiertes Wissen [3] ist in einer konkreten Erfahrung der jeweiligen Person verankert. Die Choreografin Chiara Bersani teilt ihr situiertes Wissen mit dem Publikum – ein Wissen über das ‚In-der-Natur-Sein’ als Mensch mit motorischer Behinderung. In ihrer Performance SOTTOBOSCO ist die Natur kein Ort der Ruhe oder der Meditation – sie wird zu einem mysteriösen, unzugänglichen Ort voller Bedrohungen und Geheimnisse.

Wir werden nie wirklich wissen, wie es sich anfühlt, das Leben aus der Perspektive eines anderen Menschen zu erleben, doch die Arbeiten von Künstler*innen schenken uns einen Moment der Empfindsamkeit, der es uns ermöglicht, uns in der Haut eines anderen wohl zu fühlen. Einen Moment lang vergessen wir, wo der eigene Körper aufhört und wo der des anderen beginnt. Dieses Gefühl der Durchlässigkeit von Körpern ist die Art von Wissen, die das Festival hervorbringt: das Entdecken vieler Arten von Wissen und vieler Wissenswege – ways of knowing.

 

[1] Online abrufbar/ Available online: bodilyknowledge.com/home
[2] Online abrufbar / Available online: www.whatisemerging.com/profiles/minna-salami-on-sensuous-knowledge-and-black-feminism
[3] Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, Donna Haraway, Feminist Studies, 1988.

 

 

Über Eva Neklyaeva

Eva Neklyaeva verfolgt als Kuratorin eher eine Herangehensweise gegen und außerhalb festgelegter Genregrenzen – sie findet Augenblicke der Freiheit und von Bedeutung an den Schnittstellen von vielerlei Ausdrucksformen, in Schreibpraxis und Recherche. Darüber hinaus kuratiert sie Samara Editions – performances by post und organisiert in Mailand Afterglow, eine Workshopreihe zu Lust, während sie für das SPIELART Theaterfestival in München als Ko-Kuratorin fungiert. Ihre Arbeit umfasst auch eine Tätigkeit an der IUAV-Universität in Venedig, an der sie zum Kuratieren in den Performativen Künsten lehrt. Darüber hinaus schreibt sie für various-artists.com. Ab September 2023 wird sie für das Programm am VIERNULVIER in Gent verantwortlich sein. Für ihre Arbeit hat Eva Neklyaeva bisher zwei TINFO-Preise für Innovationen im Bereich Theater, einen Preis für Meinungsfreiheit des finnischen PEN-Verbandes sowie eine Auszeichnung der finnischen Sexolog*innenvereinigung für die Förderung sexuellen Wohlbefindens erhalten.