Betty Yi-Chun Chen

Wellen beobachten

Bei einem unserer Gespräche zur Vorbereitung des Programmschwerpunkts WHEN MEMORIES MEET im Herbst 2022 erzählte mir Sophie Becker von Djajeng Pratomo, einem Kämpfer für die indonesische Unabhängigkeit, der während seines Studiums in den Niederlanden auch im Widerstand gegen die Nazis aktiv war. Er überlebte die Lager von Amersfoort, Vught und Dachau. Obwohl er nach dem Krieg in den Niederlanden blieb und als Journalist arbeitete, setzte er sich weiterhin für die Unabhängigkeit Indonesiens ein.

Pratomos Geschichte eröffnete eine andere Perspektive auf die Geschichte der Entkolonialisierung und des Widerstands gegen den Faschismus. Und er war kein Einzelphänomen: Gleichgesinnte junge Student*innen aus Indonesien hatten den Studierendenverband Perhimpunan Indonesia gegründet, der sich sowohl in Europa als auch in Asien gegen Faschismus und Nazismus einsetzte. Ihre Geschichten erinnerten zur rechten Zeit – inmitten der Kontroversen um die documenta 15 im Sommer 2022 – daran, wie voreilige Etikettierungen von Gegensätzen allzu oft die Auseinandersetzung mit der Komplexität und dem Potenzial der Geschichte blockieren und sie auf eine ständige Wiederholung fester Projektionen beschränken.

Donna Haraways optische Metapher der Diffraktion (Beugung) wurde daher zu einem wichtigen Ausgangspunkt für unsere kuratorischen Diskussionen. Wenn man sich vorstellt, dass zwei Steine ins Wasser geworfen werden, so überlagern sich die Wellen, die sie erzeugen, und bilden ein komplexes Muster. Die wechselnden Wellenmuster werden nicht von einem einzigen Punkt bestimmt, sondern von ihren Wechselwirkungen. Anstatt von einem festen, bekannten Muster auszugehen, möchten wir diese Wellen betrachten, die „Geschichte der Interaktion, der Interferenz, der Verstärkung, der Differenz“ beobachten, um „vielversprechendere Interferenzmuster auf dem Aufnahmematerial unserer Leben und Körper zu erhalten.“[1]

Auf diese Weise erforschen die Performances, Installationen, Gespräche und Filme in WHEN MEMORIES MEET das Erbe der großen historischen Konflikte und Spaltungen. Einige von ihnen beschäftigen sich mit den Folgen historischer Gräueltaten, andere entdecken transnationale Parallelen und legen unbekannte Zusammenhänge über nationale und ideologische Grenzen hinweg offen. Wieder andere tauchen in die Stille jenseits des offensichtlich Politischen ein. Von Erinnerungen an Bürgerkriege, koloniale Infrastrukturen, staatliche Gewalt und Diaspora bis hin zu den Videokassetten des Vaters, den Liedern der Mutter und den Konzertflügeln zeichnen künstlerische Bestrebungen diese Wellen nach, die die persönliche Identität und die soziale Vorstellungskraft geprägt haben, um Momente der Begegnung, der Interferenz und – in einer Zeit der gesellschaftlichen Spaltung und der sich wandelnden historischen Narrative – der Verbindung zu schaffen. Ohne sie wird ein neues Verständnis der Realität in dieser gemeinsamen Welt nicht möglich sein.


[1] Donna Haraway, Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan©_Meets_OncoMouse™.

Über Betty Yi-Chun Chen

Die Dramaturgin und Übersetzerin Betty Yi-Chun Chen hat Anglistik und Theaterwissenschaft in Taipeh und Bochum studiert. Von 2012 bis 2022 arbeitete sie mit dem Taipei Arts Festival. Als freiberufliche Dramaturgin hat sie mit Künstler*innen und Kurator*innen aus Taiwan, Hongkong, Singapur, Japan und Deutschland zusammengearbeitet. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Reibung zwischen individuellen und kollektiven Erzählungen. Sie schreibt über zeitgenössische Praktiken des politischen Theaters und hat ein Bücher und Theaterstücke aus dem Deutschen und Englischen ins Chinesische übersetzt. Betty Yi-Chun Chen ist Ko-Kuratorin des diesjährigen SPIELART Theaterfestivals.