Betty Yi-Chun Chen
Neugestaltung einer Repräsentationsmaschine
Während ich diese Zeilen schreibe, befinden sich taiwanesische Abgesandte in den letzten Zügen der Zollverhandlungen mit der Trump-Administration – wie so viele andere Länder der Welt auch. Dennoch sind sowohl der Status als auch die Existenz dieses funktionsfähigen demokratischen Staates einer ständigen chinesischen Bedrohung ausgesetzt, da China den Anspruch erhebt, der souveräne Staat Taiwan sei Teil seines Territoriums – eine Behauptung, die immer absoluter und militanter vorgetragen wird.
Das Dilemma Taiwans ist historisch bedingt und begann mit der Resolution 2758 der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1971, durch die der Sitz Chinas bei den UN von den „Vertreter*innen Chiang Kai-sheks“ (Republik China, ROC) auf die Volksrepublik China (VR China) übertragen wurde. Obwohl die Frage der Souveränität Taiwans in der Resolution nicht einmal erwähnt wird, hat Beijing sie als Rechtfertigung genutzt, um Taiwans internationale Teilnahme auszuschließen. Da es sich die meisten Nationen nicht leisten können, ihre Verbindung zu China zu kappen, ist die Einrichtung einer offiziellen diplomatischen Vertretung der Republik China – wie Taiwans offizieller Titel lautet – in Europa, mit Ausnahme des Vatikans, nicht möglich, ungeachtet Taiwans aktivem Austausch mit Europa.
Das ist die Realität, vor deren Hintergrund Stefan Kaegis DIES IST KEINE BOTSCHAFT (MADE IN TAIWAN) operiert. Drei Protagonist*innen – ein Botschafter im Ruhestand, eine Digitalaktivistin und eine Musikerin, die gleichzeitig die Erb*in eines Bubble Tea-Imperiums ist – erzählen von sich und von Taiwan. Von Geschichten, Erinnerungen, von Geschichtlichem und den Verbindungen zwischen ihnen. Gemeinsam mit dem Publikum stellen sie sich der Aufgabe, auf der Bühne eine Botschaft für Taiwan zu eröffnen. In der Zwischenzeit hat diese „unmögliche Botschaft“ ihre flüchtige Existenz bereits in Deutschland, der Schweiz, in Spanien, in Südkorea und an weiteren Orten aufgeschlagen.
„Ich finde es immer interessant, die Beziehungen zwischen den Vereinten Nationen, zwischen den einzelnen Ländern, zu beleuchten“, so Stefan Kaegi in unserem Gespräch. Während die vormaligen ost- und westdeutschen Staaten beide ihre jeweiligen Sitze bei der UN behaupten konnten, gelang Taiwan dies nicht; und die Schweiz war bis zu den 1990ern gar nicht besonders versessen darauf, überhaupt Mitglied zu werden, obwohl sie bereits sehr viel früher den Vereinten Nationen als Gastgeberland diente.
Dies ist nicht das erste Mal, dass er bzw. Rimini Protokoll dem, was er „die Spektakel der Diplomatie“ nennt, nachspürt. Sowohl die Münchner Sicherheitskonferenz als auch die Weltklimakonferenz wurden von ihnen 2009 und 2014 in Theatererlebnisse verwandelt, in denen die politischen Hinterzimmergespräche, Perspektiven und Strategien simuliert, weitergespielt, erlebt und manchmal sogar vom Publikum selbst verkörpert wurden.
Derzeit recherchiert er gemeinsam mit Caroline Barneaud und Doktorand*innen aus aller Welt am Centre for Digital Humanities and Multilateralism in den Genfer Archiven internationaler Organisationen (unter anderem jener der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes) und ermöglicht so neue Einblicke in diese Archive aus der Sicht der Länder, aus denen die Doktorand*innen stammen.
„Ich denke, es ist sehr interessant, sich die Repräsentation von Ländern anzusehen, wie sie sich inszenieren müssen, denn das ist sehr verwandt mit dem Theater. Mit der ganzen Frage nach Repräsentation“, fügte Stefan Kaegi noch hinzu. „Wir heißen Rimini Protokoll nicht nur, weil ein Protokoll eine Verschriftlichung von etwas ist, sondern auch, weil es das Wort für die Position bezeichnet, die dafür verantwortlich ist, die Repräsentanzen von Mächten zu organisieren, zum Beispiel wenn sich die G7 treffen – also wie man die politische Situation am besten darstellt, etwa wer bei einem Abendessen wo am Tisch sitzt. Diese Zeichen von Macht zu deuten, die Signale, die sie hervorbringen, das, denke ich, ist sehr interessant, und kann hilfreich sein.“
Der ungewöhnliche Name der Arbeit wurde, wie Stefan berichtete, von einer früheren künstlerischen Reaktion auf derlei nationale Repräsentation auf internationaler Bühne inspiriert: Der „Taiwan Pavilion“ auf der Biennale von Venedig 2013 trug den Titel THIS IS NOT A TAIWAN PAVILION – eine kritische Reaktion nicht nur auf Taiwans Ausschluss von den Nationalpavillons[1], sondern auch auf den nationalistischen Rahmen der Biennale wie auch der Kunstszene in Taiwan.
In vielerlei Hinsicht kann DIES IST KEINE BOTSCHAFT (MADE IN TAIWAN) als eine Neugestaltung der Repräsentationsmaschine verstanden werden – mit Geschichten, Zeichen und Liedern. Die Vereinten Nationen stellen genau eine solche Maschine dar; sie bringt eine Illusion der Welt hervor, allerdings macht das auch jede andere Botschaft. Wie vertritt man die historische Komplexität oder die gespaltenen gesellschaftlichen Meinungen eines Landes wie Taiwan auf dem diplomatischen Parkett? Ich sehe in der Aufführung auch eine Art „Multilateralismus“ wirken, bei der darauf geachtet wird, was passiert, wenn unterschiedliche Perspektiven und Erinnerungen aufeinandertreffen. Sie zeigt, wie das Fehlen internationaler Anerkennung eines Landes das konkrete Leben der Protagonist*innen in vielerlei Hinsicht beeinflusst.
Ihre sehr unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Erfahrungen und Überzeugungen lassen sich nicht unter einer einzigen Identität zusammenfassen. Diese konkurrierenden Stimmen werden manchmal wörtlich artikuliert. Ein anderes Mal werden sie in Musik und Bildern ausgedrückt. Eine bunte Collage.
Seit der Entstehung dieses Stückes in den Jahren 2022/23 haben verschiedene Formen der Infiltration und Einschüchterung Taiwans durch China weiter zugenommen. Während Chinas allgegenwärtige Macht in internationalen Organisationen nicht zu schwinden scheint, wird seine Interpretation der Resolution 2758 von immer mehr Staaten infrage gestellt. Repräsentation kann die Wirklichkeit verändern. Sie hat den Status Taiwans verändert, und sie verändert ihn gerade.
Das Stück handelt jedoch nicht nur von Taiwan. Überall, wo es gezeigt wird, nimmt es die wirtschaftlichen und politischen Dynamiken des Ortes, in Verbindung mit dem enormen Einfluss Chinas heute, auf. Besonders Industriemagnat*innen, Politiker*innen oder andere Entscheidungsträger*innen „tauchen“ während der Aufführung „auf“ und erschaffen so in jeder Stadt neue Versionen des Stücks. Wie ein Seismograph erkennt es die Spannungen und Erschütterungen an jedem Ort. Wie wird es in München aussehen? Ich freue mich darauf.
[1] Der „Taiwan Pavilion“ war seit 1995 Teil der nationalen Pavillons, musste aber auf Druck Chinas 2003 entfernt werden. Seither nimmt Taiwan in der Kategorie „Collateral Events“ teil, d. h. als begleitende Veranstaltung im Rahmen der Biennale von Venedig, und wird nicht mehr in der offiziellen Aufzählung der nationalen Pavillons geführt.
Über Betty Yi-Chun Chen
Die Dramaturgin und Übersetzerin Betty Yi-Chun Chen hat Anglistik und Theaterwissenschaft in Taipeh und Bochum studiert. Von 2012 bis 2022 arbeitete sie intensiv mit dem Taipei Arts Festival. Als freiberufliche Dramaturgin hat sie mit Künstler*innen und Kurator*innen aus Taiwan, Hongkong, Singapur und Deutschland zusammengearbeitet. Ein konstanter Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Reibung zwischen individuellen und kollektiven Narrativen. Sie schreibt über zeitgenössische Praktiken des politischen Theaters und hat ein Dutzend Bücher und Theaterstücke aus dem Deutschen und Englischen ins Chinesische übersetzt. 2023 war Betty Yi-Chun Chen Ko-Kuratorin der Programmlinie WHEN MEMORIES MEET im Rahmen des SPIELART Festivals München.