Der Maßstab der Dinge

Ich kenne die Arbeiten von Vee Leong und Kappa Tseng (Uncertain Studio) seit vielen Jahren. Sie arbeiten in sehr unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen Medien: Vee Leong mit Text und Schauspieler*innen, Kappa Tseng mit Objekten und Szenografie. Aber beide bringen eine andere Art von Realität ins Theater. Sowohl WHO KILLED THE ELEPHANT als auch THE COLLECTION OF TIME IN POLYMER AGE erinnern mich an den „Neo-Surrealismus“, den die Schriftstellerin Olga Tokarczuk in ihrer Nobelpreisvorlesung mit dem Titel THE TENDER NARRATOR vorschlägt.

Was Olga Tokarczuk mit „Neo-Surrealismus“ meint, ist die Suche nach einer neuen Art von Realität in unserer zunehmend mediatisierten, abstrahierten Welt, die es uns ermöglicht, „über die Grenzen unseres Ichs hinauszugehen und die Glasscheibe zu durchdringen, durch die wir die Welt sehen“, indem sie neue Sichtweisen anbietet, die angesichts der Vereinfachung „gegen den Strich gehen“ und die Kapazität unserer Psyche erweitern.[1] Diese Perspektiven erzählen Geschichten aus einer Vielzahl von Blickwinkeln, menschlichen und nicht-menschlichen, und aus verschiedenen Zeitskalen.

In THE COLLECTION OF TIME IN POLYMER AGE erzählt der Sänger und Geschichtenerzähler in der Ich-Perspektive das Leben einer Plastikschüssel: Es dauert 180 Millionen Jahre, bis ein toter Organismus versteinert und zu Erdgas oder Erdöl wird, 22 Tage, um ihn in eine Fabrik zu transportieren, 96 Stunden, um ihn in eine Einwegschüssel zu verwandeln, die bei einem Bankett 16 Minuten lang benutzt wird.

In WHO KILLED THE ELEPHANT beginnt die Geschichte mit dem Elefanten in Burma, der von dem Kolonialbeamten in George Orwells Geschichte, SHOOTING AN ELEPHANT, getötet wurde, und endet mit Tino, einem Elefanten in einem Zoo in Hongkong, der in den 1980er Jahren starb. Er wurde auf einer Mülldeponie begraben, auf der später luxuriöse Wohnviertel gebaut wurden. Doch der Elefant erinnert sich:

Ein Elefant vergisst nie. Er erinnert sich an den Auf- und Abbau eines jeden Hauses auf dem Land, an die Bildung und Wanderung von Stämmen, an die scharfen Waffen gieriger Jäger, an den letzten Schrei des Flüchtlings, dessen Hemdzipfel sich im Drahtzaun verfangen hat, an den Karneval an der Straßenecke; an das Teilen, das Vertrauen, die Einfachheit. Der Elefant verkörpert die älteste Existenz. Er steht.

Elefanten sind behutsame Erzähler*innen, die uns die Welt in einem anderen Maßstab zeigen. Es ist nicht verwunderlich, dass beide Werke eine jahrelange Entwicklung durchlaufen haben und sich mit der Umgebung, in der sie spielen, verändert haben. Durch ihre Brille sehen wir Gewalt, System, Paradoxien, aber auch Trauer, Erinnerung und Beharrlichkeit.

[1] Die vollständige Rede unter: www.nobelprize.org/prizes/literature/2018/tokarczuk/lecture/. Verfügbar in Englisch, Schwedisch und Polnisch).